Fremder


Der Fremde im Spiegel

Das Gefühl:

Du wachst eines Morgens auf. Vielleicht ist gerade Sonntag, Aber jeder andere Tag tut es auch. Du bist ein bißchen benommen, weil du wohl gerade lange geschlafen hast. Auf jeden Fall schlurfst du (möglicherweise) in das Bad. Du versuchst wahrscheinlich leise zu sein, um deine Frau und die Kinder nicht zu wecken. Könnte sein, daß deine Frau hübsch ist und die Kinder könnten wohlgeraten sein, was immer das heißt. Das Badezimmer und das Haus drumherum sollten dir gehören, aber all das ist nebensächlich. Auf jeden Fall gehst du zur Toilette. Du zögerst eventuell ein bißchen um das große Bad zu betrachten, vielleicht willst du den Geruch nach Sauberkeit und Hygiene genießen; das ist aber gleichfalls ohne Belang. Du stellst dich an die Toilette und erleichterst deine Blase. Einem Impuls folgend magst du nach dem Spülen in den Spiegel sehen und………………………

 

Du kannst es nicht fassen, was du siehst. Der Schock macht dich schwanken und beinahe wärst du hingefallen. Vielleicht wäre das sogar besser gewesen, denn dann wäre dir dieser entsetzliche Anblick erspart geblieben. Du kannst es nicht fassen, denn ……………..

 

……. der da, den du in Spiegel siehst, der dich eigentlich widerspiegeln sollte, das bist nicht du! Ein Fremder! In deinem Haus! In deinem Badezimmer !! In deinem Spiegel!!!

Du schaust noch einmal hin. Aber der dich da ebenfalls mit vom Schlaf verklebten Augen anstarrt, das bist immer noch nicht du.

Plötzlich ……………

denkst du an Zeiten, als du noch du warst. Dein erster Schultag, als du dir den Magen mit Süßigkeiten verdarbst. Claudia, dein erster Schwarm, die dir immer nur die kalte Schulter gezeigt hatte. Deine erste große Liebe, die fast tragisch endete. Die erste der vielen Enttäuschungen. Dein Abitur und deine panische Angst davor. Das katastrophale „erste Mal“. Dein erster Joint. Inter-Rail in Portugal. Das Studium und deine Ideale, deine hehren Ideale; dann Karriere, die Frau-fürs-Leben, Lieben und Ehren, „laß doch die Pille Pille sein“ , es ist ein Mädchen!, dann kommt………

………………………….ein Riß.

Und eines morgens wachst du auf, gehst Pinkeln, siehst in den Spiegel und kommst zu der Erkenntnis: „Mein Gott, das bin nicht ich!“

Dann gehst du vielleicht ins Schlafzimmer, küßt deine schläfrige Frau, deine geliebten Kinder und ziehst dich an (oder auch nicht). Du schließt die Tür mit dem Schlüssel auf, den du eventuell gleich in den Briefkasten werfen wirst. Dann öffnest du die Tür. Du zögerst vielleicht den Bruchteil einer Sekunde, aber dann verläßt du dein Haus und atmest die wunderbare Luft, die dir noch nie so köstlich schien wie an diesem Morgen. Du gehst wohl, ohne dich umzusehen.

In deinem Haus tritt derweil der Fremde aus dem Spiegel und geht ins Schlafzimmer. Deine Frau fragt ihn: „Wo bist du gewesen, Liebling?“ Und er antwortet: „Im Bad, Schatz, nur im Bad.“ Dann legt er sich neben sie.

22.5.2007


Hallo Alle.

Damit es nicht langweilig wird und um vor dem Großen Dreier mal absolut religionsloses Zeug reinzusetzen, eröffne ich heute mal eine neue Rubrik: „Kurze Geschichten“.

Darin lasse ich mal ein paar von meinen Kurzgeschichten auf die ahnungslose Welt los. Den Anfang macht heute „Der Fremde im Spiegel„. Die Geschichte habe ich vor etwas mehr als 20 jahren geschrieben, also seht mir den Staub nach, der aus euren Monitoren kommt 😉 Wer mir jetzt schamlose Verwertung von schon Vorhandenem vorwirft, der mag Recht haben. Für solche Fälle habe ich aber die zeitlosen Worte Alfred E. Neumanns parat: Na und?

Nach dem Meeresbiologen-Debakel hatte ich kurz mit einer Karriere als berühmter Schriftsteller geliebäugelt (he, ich war 13 oder so!), aber letztendlich entdeckte ich, dass Schreiben vor allem eine Frage des Fleißes ist und das erstickte diese Ambitionen wieder 🙂 Trotzdem habe ich einige Sachen geschrieben und ein paar davon sogar behalten und drei oder vier Geschichten sind tatsächlich so, dass ich sie vorzeigen möchte. „Der Fremde im Spiegel“ war übrigens die einzige (fiktionale) Geschichte, die ich veröffentlicht habe. Ich habe sie damals bei einem Wettbewerb in Göttingen eingreicht, zwar keinen Platz gewonnen, bin dafür aber in ein Buch zu diesem Wettbewerb aufgenommen worden.

Ich habe die Geschichte nicht bearbeitet und sie ist auf dem Stand von 1990. Betrachtet sie einfach als Antiquität.

Viel Spaß,

Skeltem