Gier

Heute morgen flüchtete ich aus unserer Wohnung. Es ist nicht zu ertragen heiß und stickig in der Bude. Unsere liebe P-Katze war erkältet und deswegen dürfen wir keinen Zug haben, deswegen dürfen wir nicht mehr als ein Fenster öffnen, deswegen schmeckt die Luft in unserer Wohnung nach Rockkonzert und Sportumkleidekabine.
Ich ließ also alle häuslichen Pflichten Pflichten sein, tat als sei ich im Urlaub und frühstückte in einem Café in der Coburger Fußgängerzone. Ich hatte mir ein Buch von Jonathan Franzen mitgenommen. Allein das Lesen gestaltete sich schwierig. Denn jede junge Frau schien die andere darin übertreffen zu wollen, wer denn am wenigsten anhabe, aber noch als bekleidet durchgeht. Ich kann das gut verstehen. Am liebsten würde ich mit nichts anderem als einem Lendentuch und einer Sonnenbrille angetan durch den Sommer gehen. Vermutlich würde ich dann auch Blicke auf mich ziehen.
Um nicht wie ein alter geiler Bock auf die so freigiebig dargebotenen Reize zu gaffen (warum eigentlich nicht?) und weil Franzen nicht so interessant war wie das ungewohnte Leben vor meinen Augen beobachtete ich eine Szene am Nebentisch.
Eine ältere Frau saß mit einem kleinen Jungen dort und machte offensichtlich Pause während eines Einkaufsbummels. Die Frau trank ein Kaffeegetränk, der Junge mitgebrachten Zucker und hatte ein Stück Kuchen vor sich. Er hatte es sich ausgesucht und als es kam, biss er einmal ab und ließ es dann stehen.
Beide waren in mitgebrachte Lektüre vertieft. Sie in irgend eine Zeitschrift, der Junge in einen Spielwarenkatalog. Er betrachtete die Spielsachen hungriger als er wohl je ein Stück Kuchen ansehen würde. Ab und zu reichte er seiner Oma das Heft und deutete auf irgend ein futuristisches Plastikding. Die alte Dame betrachtete den „Vulcan X Riesenwarpschlachtkreuzer der E’nghi-Allianz“ mit dem gleichen wohlwollenden Blick wie ein besonders hässliches Kind, das ihr von stolzen Eltern präsentiert wird. ‚Oh, das ist aber hübsch.‘
Was mir auffiel war, dass der Junge nie eine wirkliche Emotion zeigte. Er schien alles unter einem Aspekt von „Was springt für mich heraus? Wie ziehe ich den größtmöglichen Gewinn aus diesem Tag?“ zu betrachten. Mit anderen Worten: er war echt unbegeistert und wollte dafür entschädigt werden, dass er sich langeweilte.
Nicht, dass mir das fremd wäre. Als Kind habe ich oft gedacht, dass ich meinen Eltern oder Großeltern eine Gefallen tue, wenn ich mich mit ihnen abgebe. Wie selbstverständlich erwartete ich eine Belohnung. Weil die Verhältnisse so waren wie sie waren bestand die aus Eis oder Naschereien oder auch mal 50 Pfennig auf die Hand. Aber ich versuchte immer die Grenzen der Großzügigkeit, die ich selten als solche sah, auszuloten.
Ich erinnere mich an eine Familienfeier, auf der meine Cousine und ich unserem Großonkel K., der schon ziemlich einen im Tee hatte, 15 Mark aus der Tasche laberten für ein Spielzeug, das wir unbedingt haben mussten! Bitte, bitte, bitte! Das ist soooo toll! 15 Mark waren nicht die Welt, nicht mal Ende der 1970er, aber natürlich guckten wir das Zeug nie wieder an.
Es ist auch nichts dabei wenn Kinder wollen. Die Gier ist uns angeboren und erst später lernen wir, dass es nicht gut ist sie ständig zu befriedigen. Wenn wir Glück haben. Wer Pech hat bekommt immer das, was er will.
Dabei fiel mir eine Parallele zwischen dem kleinen Jungen, der alles haben wollte und der momentanen Wirtschaftskrise auf. Die miese Situation ist dadurch entstanden, dass der Gier der Banken keine Grenzen gesetzt wurden. Sie wollten haben, haben, haben und möglichst wenig bis gar nichts dafür geben.
Das finde ich legitim. Es ist, wie man so schön sagt, Systemimmanent. Banken und andere Unternehmen wollen Geld verdienen. Möglichst viel. Das ist ihr Ziel und ihre Aufgabe.
Aber sie brauchen genauso wie Kinder jemanden, der ihnen aufzeigt, dass sie nicht alles haben können, was sie wollen. Dass es nicht mal für sie selbst gut sei, sich immer weiter vollzustopfen, bis ihnen schlecht ist. Dass ihr Kinderzimmer voller Spielsachen ist, mit denen sie nie spielen. Und, vor allem, dass sie schreien, greinen und toben können wie sie wollen. Es ändert nichts daran, das irgendwann Schluss ist. Und wenn sie sich nicht beruhigen, werden ernste und moderne Erziehungsmethoden ergriffen.
Der Junge jedenfalls hatte bald genug von seinem Spielzeugkatalog. Als seine Mutter zu den beiden stieß, warf er ihn achtlos beiseite, fiel ihr um den Hals und lief begeistert zum Coburger Marktplatz, wo er sich wahrscheinlich in einem der Springbrunnen abkühlte. Der Glückliche!

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