Romantik

In den frühen Neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts begab es sich, dass Skeltem, damals noch motorisiert, und seine damalige Lebensabschnittsbegleiterin Konstanze zu einem gemeinsamen Wochenende nach Süddeutschland fuhren. Auf der Höhe von Aachen überkam mich dann beim Anblick der Autobahn in Richtung Belgien eine Anwandlung von temporärer geistiger Umnachtung und ich beschloss, statt in die schöne Pfalz ins hässliche Paris zu fahren. Ehrlich, ich weiß nicht, warum. Ich hasse Paris. Das war die Wundermacht der Romantik, der wahre Grund für den Untergang des Abendlandes.

Das Wochenende in Paris war dann auch so richtig romantisch. Wir haben uns die Hacken abgelaufen, das Geld war schneller weg, als man „Baguette“ sagen kann und übernachtet haben wir dann im Auto. Das war besonders romantisch, weil es arschkalt war. So kalt, dass wir nachts schlotternd aufgewacht sind und geraucht haben in der Hoffnung die Temperaturen wenigstens über den Gefrierpunkt zu bekommen. Seitdem wird mir jedes Mal kalt, wenn ich das Wort „Romantik“ höre.

Die Epoche der Romantik war ja angeblich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beendet, totgeschlagen von der kalten Technokratie der Moderne. Das Schwärmerische vom Patriotischen verdrängt und die Freiheit des Individuums hatte sich der Unterdrückung der europäischen Großmächte unterzuordnen. Doch was die Literaturwissenschaft kategorisch erklären kann, muss uns nicht wirklich betreffen. Die Romantik führte einen Guerillakrieg, indem sie sich tarnte und so tief in das kollektive Unbewusste der westlichen Welt einnistete, dass wir heute kaum noch erkennen, dass wir mehr oder weniger alle Romantiker sind.

Ein besonderes Kennzeichen und ich möchte es als das Bestimmende der Romantik bezeichnen, ist die völlige Unabhängigkeit des Romantikers von der empirischen Wirklichkeit. Er kann durch eine Stadt wandeln wie auf Wolken, von den Menschen dort verachtet, bespuckt, von den Abgasen erstickt, taub vom Lärm und betrogen von den Geschäftsleuten. Und trotzdem liebt er diese Stadt, weil es die „Stadt der Liebe“ ist. In seiner Vorstellung ist der gleiche Ort ein völlig anderer, ein Schleier aus Phantasien taucht die harsche Wirklichkeit in newtonsches Weichzeichnerlicht. Im Lexikon steht, dass das Gegenteil der Romantik die Klassik sei. Ich behaupte, dass das Gegenteil von Romantik die Banalität der wirklich wahren Welt ist. Wenn wir das annehmen, entdecken wir plötzlich überall die Romantiker unter uns.

Besonders das Internet ist voll von ihnen. Verschwörungstheoretikern ist es zu banal, dass es 19 Fanatikern gelungen sein soll, fast 3000 Menschen mittels entführter Passagierflugzeuge zu töten. Nein, die Regierung, die Illuminaten oder Außerirdische haben ihre Finger im Spiel. Ein Produkt ist objektiv gesehen Scheiße. Aber blitzschnell finden sich verklärende Fans, die es „ganz ok“ finden, wenn die Reifen des Wagens in einem halben Jahr nachgeliefert werden, denn immerhin kann man schon hinter dem Lenkrad sitze und „brrm, brrm“ machen.

Im Religionsunterricht hat uns der Lehrer beigebracht, dass man mit „dem Herzen sehen“ soll. Das ist sicher in Ordnung auf der Ebene eines Sonnenauf-, oder -untergangs oder Abendessen beim Kerzenschein. Aber was ist, wenn eine Supermacht der romantischen Vorstellung erliegt, dass diejenigen, die man gerade in die Steinzeit zurückgebombt hat, sie mögen und ihr System mit fliegenden Fahnen übernehmen?

Ich höre jetzt: Und was ist mit der Liebe? Liebe ist toll. Sie ist das beste auf der Welt. Aber was zum Teufel hat das mit Romantik zu tun? Die romantische Liebe ist eine Erfindung französischer (war ja klar!) Troubadoure (eine längere Abhandlung findet ihr hier) und, das ist das besondere, ist das erste mediale Phänomen, das die Wirklichkeit formte und nicht umgekehrt. Vor den Troubadouren und ihre Versen war die höfische Liebe, die „hohe Minne“ unbekannt, danach wurde sie ein Ideal der Höfe Europas. Wie man in Cervantes‘ „Don Quixote“ sehen konnte, zeichnete sich die Hohe Minne vor allem durch die Unerreichbarkeit des oder der Geliebten aus. Der Andere wurde romantisch verklärt und jede banale Alltäglichkeit hatte dort nichts zu suchen. Und das ist auch die Gefahr der Romantik für die Liebe. Bert Brecht hat seinen Herrn K. das Problem sehr schön zusammenfassen lassen. Auf die Frage, was Herr K. denn tue, wenn er jemanden liebt, antwortete er, dass er ein Bild vom Geliebten Wesen male und es dann anpasse. Das Bild? Nein, das geliebte Wesen.

Romantische Liebe verklärt. Das Negative wird im romantischen Überschwang als „Besonders“ gedeutet, wenn es überhaupt wahrgenommen wird. Die Wirklichkeit ist die größte Feindin der Romantik und wird außen vor gelassen. Und die gängigen kulturellen Muster helfe dabei natürlich enorm. Die Fiktion der Filme, Bücher oder Lieder, die sich mit Liebe beschäftigen malen entweder verkitscht euphorische oder zutiefst deprimierende (schwarze Romantik) Bilder von der Liebe. Die Arbeit, die man aufbringen muss, mit einem anderen Menschen eine Beziehung zu führen, die „wahre Liebe“, die eben nicht nur Romantik und ein Himmel voller Geigen ist, wird meist außen vor gelassen. Die Banalität des Alltags hat nichts zu suchen in der Romantik.

Die meisten Menschen werden im Laufe ihres Lebens von der Banalität der Wirklichkeit eingeholt. Und viele reagieren mit Enttäuschung und Wut. „Das habe ich mir so nicht vorgestellt“ oder „Wo ist das Leben, dass mir in den Medien versprochen wurde?“. Dabei ist die Welt nicht so banal, wie sie einem entzauberten Romantiker erscheint. Die Welt ist großartig und wenn man genau hinschaut, kann man auch die Wunder sehen, die man sich erträumt hat. Nur: sie sind da draußen und nicht in irgendeiner erdachten Wirklichkeit. „Mann kann nur mit dem Herzen richtig sehen“? Quatsch, man muss alle Sinne und seinen Verstand benutzen, um richtig zu sehen.

 

6 Gedanken zu “Romantik

  1. *Seufz* Ich öffne die schwarzen Abgründe meiner Seele und alles, was ich bekomme ist dieses T-Shirt, äh … Kommentare zu dem Bild 😦

    @Kent: Wenn ich Geld hätte für eine Ray-Ban müsste ich hier nicht meinen Geschmack prostituieren 😉

  2. Sky

    Ich sehe diese Kluft nicht so stark wie du sie beschreibst.
    Die Leute sind einfach dumm, wenn sie jedes Mal, wenn sich ihre Erwartungshaltung nicht mit der Realität deckt „Enttäuschung“ und „Wut“ schreien und jegliche „romantische“ Vorstellung über den Haufen werfen.
    Die Welt liegt immer im Auge des Betrachters, und ist eben kein Gebilde, was automatisch „Hart und scheisse und alltagsdurchwirkt“ ist, nur weil in Teilen der Alltag nicht so ist wie im Film.
    Die Welt ist sehr komplex und lässt sich weder auf „romantisch“ noch auf „Alltag“ festlegen, sondern ist beides plus andere Zutaten.
    Genauso die Liebe.
    Das Problem liegt meiner Meinung nach nicht bei der harten Welt, die romantisch denkende Leute vor den Kopf stößt, sondern in der Unfähigkeit dieser Leute, mehr als eine Weltanschauung nebeneinander existieren zu lassen.

  3. tombs

    Eigentlich wollte ich wählen zwischen nem Spruch zu dem Kind?, das sich in Deiner Brille spiegelt und dem Hinweis, dass die Romantik (Epoche) mit Romantik (Gefühlsduselei) etymologisch nix miteinander zu tun haben. Aber dann hat mich der Text zu sehr ergriffen und jetzt weiß ich nicht mehr, was ich sagen wollte. Nice Glasses tho

  4. @Sky: Deiner Meinung. Und die habe ich ja auch in den letzten Absätzen vertreten. Die Welt ist nicht entweder/oder sondern sowohl-als-auch. Aber das entweder/oder ist eine romantische Vorstellung.
    Der Schlüssel zu dieser Miszelle ist vielleicht „Romantik“ durch „Fiktion“ zu ersetzen.
    Und ich habe schon viele Menschen gesehen, deren Fiktion von der Inkompatibilität mit der Welt zerbrochen wurde. Glaubt mir, das ist kein schöner Anblick.

    @tombs: Lapis wird sich freuen, dass sie noch so jugendlich wirkt 🙂
    Wg. Epoche und Gefühlsduselei: Siehe oben.

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